Professorin Annette Kehnel: Wir konnten auch anders

Die Gesellschaft steht vor großen Herausforderungen: Die ökologische Transformation wird in den kommenden Jahren alle gesellschaftlichen Bereiche treffen und verändern. Die ambitionierten Ziele, Klimagasneutralität bis 2045, werden nur zu erreichen sein, wenn es neben den der Ausschöpfung technischen Verbesserungen auch kulturelle Veränderungen und Neuorientierungen gibt. Doch wohin sollen wir uns wenden, wenn es darum geht, Alternativen zu den Mustern des fossilen Zeitalters zu finden? Die Historikerin Professorin Annette Kehnel macht den instruktiven Vorschlag, dazu auch einmal ohne Nostalgie in die Zeit vor der Industrialisierung zu schauen.

Akademiegespräch: Professorin Annette Kehnel: Wir konnten auch anders

In ihrem Buch „Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit“ geht sie deshalb der Frage nach: Wie haben die Menschen etwa im Mittelalter gelebt und über Jahrhunderte eine mehr oder minder nachhaltige Kultur gelebt?

Kehnels Blick auf das Mittelalter fördert Erstaunliches zu Tage
Bei ihren Untersuchungen fördert die Forscherin Erstaunliches zu Tage. Viele soziale Arrangements des Mittelalters können auch heute vorbildlich sein. So vergaben schon im Mittelalter kommerzielle Banken Mikrokredite gerade auch an die ärmere Bevölkerung. Komplexe soziale Absprachen haben dazu geführt, dass Seen über Jahrhunderte hinweg nicht überfischt, dass gemeinsamer Weidegrund nicht einfach abgegrast, dass Wälder nicht einfach abgeholzt wurden. Laienbewegungen wie die Beginen haben neue, innovative Stadtgemeinschaften ins Leben gerufen, die auch im städtischen Raum auf Subsistenz setzten. Durch eine ausgeprägte Reparaturkultur wurden Gebrauchsgegenstände immer wieder erneuert und nicht als kurzzeitige Konsumgegenstände angesehen.

Für die Gestaltung der Zukunft lohne also auch ein Blick in die fernere Vergangenheit!
Die Leichtigkeit, mit der in Neuzeit und Moderne oft über das Mittelalter negativ geurteilt wurde, verbietet sich dann. Für die Gestaltung der Zukunft lohnt gerade auch eine genauere Untersuchung der ferneren Vergangenheit!

Doch es geht nicht darum, die Lösungen des Mittelalters einfach zu kopieren
Heute geht es natürlich nicht darum, die Lösungen des Mittelalters einfach zu kopieren. Die Zeiten sind andere, die Herausforderungen sind auch andere, es wird andere Lösungen geben müssen. Jedoch kann man auf der Suche nach einer neuen Kultur jenseits des fossilen Industriezeitalters durch die mittelalterliche Kultur Anregungen empfangen, wie der Umgang mit den Gebrauchsdingen, wie die Gestaltung von Gemeinschaften, wie soziale Regelwerke und Fürsorge nachhaltig gestaltet werden können. Professor Kehnel plädiert für eine neue Lust „an dem, was man hat.“

Alternativen kann man nur finden, wenn man eingeführte Denkpfade verlässt
Die Historikerin plädiert dafür, eingeführte Denkpfade zu verlassen: „Alternativen werden dann erst denkbar, wenn wir herauskommen aus diesem Käfig der Alternativlosigkeit und vor allem, wenn wir die Angst ablegen davor, dass alles anders werden könnte. Natürlich ist es schon deutlich, dass wir Angst vor Veränderung haben, weil wir auch viel zu verlieren haben. Wir sind ja die Gewinner dieser ganzen Entwicklungen. Wir leben auf Kosten nicht nur des Planeten, sondern auch auf Kosten anderer Menschen, die in anderen Kontinenten leben und auf Kosten künftiger Generationen. Deswegen haben wir natürlich Angst, dass wir etwas verlieren.“

„Es kann anders sein und trotzdem gut““
Diese Verlustangst werde, davon ist die Mittelalter-Expertin überzeugt, unnötigerweise geschürt: „Wir sollten sie abbauen. Das genau versuche mit meinem Buch zu sagen: ‚Okay Leute, es wird anders werden, egal ob wir das wollen oder nicht. Es wird anders werden, aber hört doch mal auf, immer davor Angst zu haben, dass es anders wird. Es kann doch anders sein und trotzdem gut.'“

Technologischer Fortschritt muss in die richtige Richtung gedacht werden
Dabei streitet Kehnel die Notwendigkeit von technologischen Neuerungen nicht ab: „Wir brauchen technologischen Fortschritt, aber dieser technologische Fortschritt muss eben in die richtige Richtung gedacht und gemacht werden. Und da ist die Frage, ob wir Technologien brauchen, die eine noch effizientere Ausbeutung der Ressourcen erlauben und eine noch effizientere Vernichtung unserer Lebensgrundlage oder Technologien, die eben eine nachhaltige Nutzung zum Wohle aller ermöglichen. Und ich denke, wir sind da extrem weit und durchaus auf dem richtigen Weg, in dem Sinne, dass überall Umbrüche erkennbar sind.“ In diesem Zusammenhang weist sie z.B. darauf hin, dass es z.B. mittlerweile Initiativen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gibt, einerseits Schäden durch die Ausbeutung von Ressourcen und andererseits sozialen Nutzen von Unternehmensaktivitäten mit in die Unternehmensbilanzen einzurechnen.

„Ich bin zuversichtlich, dass wir das Rad noch herumreißen können.“
Professor Kehnel ist optimistisch: „Ich bin eigentlich zuversichtlich, dass wir das Rad noch rumreißen können, aber wir müssen es wollen.“ Dabei sieht sie insbesondere die heutige Generation der Babyboomer in der Pflicht: „Es sind wir, die das Geld haben, die sehr viel Weichen stellen können für die Zukunft. Viele von uns sind Entscheidungsträger. Jetzt sitzen wir noch am Hebel und müssen das tun, was die Veränderungen für die Jungen auch ermöglicht, auch wenn die Umsetzung dann wirklich den nachfolgenden Generationen zugute kommt. Wir dürfen die Probleme der Zukunft und der Gegenwart nicht der nächsten Generation überlassen. Das ist mir ein großes Anliegen.“

Zur Person
Annette Kehnel studierte von 1984 bis 1990 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Somerville College Oxford und an der Ludwig-Maximilians-Universität München die Fächer Geschichte und Biologie. Sie wurde im Mai 1995 am Trinity College Dublin promoviert. Ihre Habilitation erfolgte 2004 an der Technischen Universität Dresden mit einer Arbeit über die Franziskaner auf den Britischen Inseln in der Zeit vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Seit Oktober 2005 ist sie Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Historische Anthropologie, Politik-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte sowie die Vergleichende Ordensforschung. Mit ihrer Dissertation legte sie die erste Darstellung eines irischen Klosters im Mittelalter überhaupt vor. Ihr Werk Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit wurde 2021 mit dem NDR Sachbuchpreis ausgezeichnet.

Zur Website:  https://www.phil.uni-mannheim.de/geschichte/lehrstuehle/mittelalterliche-geschichte/team/annette-kehnel/